Jagd auf den falschen Schurken Streit um das Cholesterin Wortgewaltig zieht ein Münchner Wissenschaftler gegen die herrschende Lehrmeinung von der Schädlichkeit des Cholesterins zu Felde: "Dessen Verteufelung", so der Pharmakologe und Toxikologe Dr. Hans Bräuer, "ist wohl der größte medizinische Irrtum unseres Jahrhunderts". Ein zu hoher Cholesterinspiegel im Blut gilt gemeinhin als Ursache von Arteriosklerosen, koronaren Herzerkrankungen und Infarkten. Ärzte heben warnend den Finger, wenn Patienten nach Eiern, Milch und Butter, nach Leber, Schalentieren oder anderen "Cholesterinbomben" greifen. Daß zuviel Cholesterin ungesund ist, weiß auch Dr. Hans Bräuer, Direktor des "Instituts für klinische Biochemie und Pharmakologie". Doch heute, so der Münchner Toxikologe, werde durch zuwenig Cholesterin mehr Schaden angerichtet als durch zuviel: "Die Höhe des Cholesterinspiegels, die es derzeit nach einigen Veröffentlichungen anzustreben gilt, hat Werte erreicht, die ins Pathologische, ins Negative abrutschen." Während die bundesdeutsche Schulmedizin einen Cholesterinspiegel von weniger als 200 mg pro 100 ml Blutserum für richtig hält, folgt Bräuer der alten Faustregel "200 plus Lebensalter". Cholesterin, so Bräuer, ist für den Organismus weder "Fremdsubstanz noch Zivilisationsgift, sondern ein unentbehrlicher Baustein des Lebens". In unserem Körper sind 140 bis 160 g Cholesterin gespeichert. Allein 40 g davon im Gehirn, vor allem in den Myelinscheiden der Nervenzellen, einer Art Isolierung für die Nervenbahnen. Das gesamte Zellsystem des menschlichen und tierischen Körpers kann ohne eine ausreichende Menge Cholesterin nicht einen Tag funktionieren. Eingebettet zwischen Phospholipiden aus gesättigten Fettsäuren sorgt es für die mechanische Stabilität aller Zellmembranen, macht sie elastisch, reiß- und biegefest. Fehlt der vieldiskutierte Stoff, "wird die Membran weich wie Gänsefett in der Sonne". Die Folgen sind gravierend: Der Zellmembran fehlt ein wichtiges Strukturelement, sie funktioniert nicht mehr richtig. Bräuer: "Die Phagozytose zum Beispiel, die Freßfähigkeit der weißen Blutkörperchen (Leukozyten), erlischt. Die Gesundheitspolizei des Körpers ist lahmgelegt. Damit die körpereigene Abwehr funktioniert, brauchen die Leukozyten einen Cholesterinspiegel, der unbedingt über 200 mg pro 100 ml Blutserum liegen muß." Auch krebserregende Viren, so der Pharmakologe, können leichter in Zellen eindringen, wenn deren Oberfläche durch Cholesterinmangel weich geworden ist. Die menschliche Leber produziert täglich ein gutes Gramm Cholesterin. Es ist nicht nur Ausgangssubstanz für das Vitamin D und die verdauungsfördernde Gallensäure, sondern auch elementarer Baustein aller männlichen und weiblichen Sexualhormone. Die Steroidhormone, zu denen außer Sexualhormonen auch Gluco- und Mineralocorticoide gehören, leiten sich biochemisch vom Cholesterin ab. Die Nebennierenrinde ist in reichlich Cholesterin eingebettet, um bei Bedarf sofort mit der Hormonsynthese zu beginnen. "Wollen wir es uns wirklich leisten", fragt Bräuer, "auf sexuelle Liebesfähigkeit und auf den regelmäßigen Genuß von Eierspeisen oder eines knackigen Schweinebratens zu verzichten, nur weil eine Gruppe von Ärzten mit peinlicher Konstanz das Cholesterin weiter verteufelt?" Es gebe, so der Pharmakologe, "nicht einen Beweis dafür, daß unser Leben auch nur einen einzigen Tag länger währt, wenn wir den Cholesterinspiegel diätetisch oder medikamentös senken". Statt dessen verweist Bräuer auf die weltweit größte Kontrollstudie, die von 1976 bis 1983 in den USA vorgenommen wurde. Unter 350000 Männern wurden 3806 ausgewählt, die einen Cholesterinwert von über 260 mg pro 100 ml hatten. Die Hälfte wurde sieben Jahre mit dem Lipidsenker Cholestyramin behandelt, die anderen Männer erhielten Placebos. "Am Ende der Studie", sagt Bräuer, "steht als Ergebnis - bezogen auf die Todesfälle - drei Patienten Unterschied von allen Todesursachen. Bezogen auf die 1800 Patienten in jeder Gruppe berechtigt das meiner Ansicht nach nicht, Medikamente einzunehmen. Prof. Oliver, Universität Edinburgh, sagt dazu: Das Risiko, ein Medikament einzunehmen, ist hier größer als das Risiko selbst." ,.Eine wacklige Behauptung" nennt er die Theorie, daß zuviel Cholesterin für Arteriosklerose verantwortlich sei. "Warum gibt es dann keine Gefäßsklerose in den venösen Blutgefäßen?" hält der Forscher seinen wissenschaftlichen Kontrahenten vor. Und auch für den Herzinfarkt mag er das Cholesterin nicht verantwortlich machen. Dafür gebe es "drei Schurken". Die ersten beiden sind der Bluthochdruck und das Rauchen. Hoch verdächtig sind nach seiner Ansicht aber auch - und das steht im Gegensatz zur bisher verbreiteten Lehrmeinung - die hochungesättigten Fettsäuren in der Nahrung. In Spuren sind sie zwar unbestritten lebensnotwendig -essentiell. Beim Abbau größerer Mengen hoch ungesättigter Fettsäuren hoch konzentriert zum Beispiel in Distel-Öl - können aber Verbindungen wie Lipidperoxide, schmerzerhöhende Leukotriene, asthmaunterhaltende Reizstoffe, Hydroxyperoxide (Krebserreger), Thromboxane (Thromboseauslöser) und Prostaglandine (Entzündungsmediatoren) entstehen, die das Herzinfarktrisiko deutlich steigern könnten." Das beim Rauchen entstehende Thiocyanat blockiert den Sauerstofftransport der roten Blutkörperchen. Der Organismus kompensiert dies, indem er mehr rote Blutkörperchen bildet. Das Blut wird dickflüssiger als normal. Dadurch kommt es an den Endothelzellen zu Schäden. Beim Versuch, sie zu reparieren, lagert der Körper dort zunächst Blutplättchen (Thrombozyten) ab. Sie bilden zusammen mit Blutfetten und Eiweißbestandteilen des Plasmas einen Thrombus. Diesen Schaden will der Organismus durch Einbau von Cholesterin und Kalk reparieren. "Das gehäufte Auftreten der Reparatursubstanz gilt dann", so Bräuer, "fälschlicherweise als Ursache der Arteriosklerose." Hierzulande ist der Münchner Pharmakologe noch weitgehend ein Einzelkämpfer. Doch aus den USA kommen vermehrt Zweifel an der Schädlichkeit des Cholesterins. Mehrere Untersuchungen deuten dort auf einen engen Zusammenhang zwischen niedrigem Cholesterinspiegel und Krebserkrankungen hin. Doch was ist die Ursache, was die Wirkung? Denkbar sind zwei Möglichkeiten: Zum einen könnte ein niederer Cholesterinspiegel krebsauslösend wirken. Zum anderen könnte aber auch eine Krebserkrankung einen verstärkten Cholesterinabbau nach sich ziehen. Am "National Cancer Institut" in Bethesda (USA) wurde bei über 12 000 Erwachsenen die zeitliche Abhängigkeit zwischen dem Cholesterinwert und der Krebsdiagnose untersucht. Bräuer faßt die Ergebnisse zusammen: "Cholesterinmangel tritt nicht als Folge des Tumors auf, sondern bereits bis zu sechs Jahre, bevor sich dieser bildet." Membranforscher unter den Medizinern diskutieren mittlerweile, daß Cholesterinmangel bei Zellmembranen eine Veränderung bewirkt, die als Schlüsselereignis für die Entwicklung bösartiger Zellen verantwortlich ist. Mit seiner Auffassung, daß auch eine durch einseitige Information verursachte Unterversorgung mit Cholesterin gesundheitliche Risiken mit sich bringt, tritt Bräuer gehörig in die Fettnäpfchen der Margarine-Industrie, "die uns seit 30 Jahren Butter und Eier madig macht". Dabei ist die Theorie des Münchners so neu gar nicht. Schon Feodor Lynen, 1964 Träger des Medizinnobelpreises, hat sich gegen die Überbewertung von Cholesterin bei Herzerkrankungen ausgesprochen. R. Bischoff Fördert Unterversorgung das Krebsrisiko?
Unverzichtbarer Baustein für die Zellwand Die weißen Blutzellen (Leukozyten) sind ein Hauptbestandteil des körpereigenen Abwehrsystems. Sie sind, wie alle Zellen des Menschen, von einer kompliziert aufgebauten Membran umgeben, in der das Cholesterin (in der Grafik lila) gleich mehrere wichtige Funktionen innehat: Es gibt der Membran Stabilität und gleichzeitig Biegefestigkeit, es regelt die Durchlässigkeit für Nährstoffteilchen und chemische Botenstoffe und hat auch einen Einfluß auf die aus derZellwand in das umgebende Medium ragenden Kontaktstellen: Die hirschgeweihähnlichen Fortsätze der Glykokalyx-Moleküle, die Enzymkomplexe und das Transferrin sind ebenso Bestandteile des Stoffwechselsystems der Zelle wie die Phospholipide mit den gesättigten (hellblau) und den ungesättigten (dunkeiblau) Fettsäuren. Durch die ganze Dicke der Membran - man müßte zehn Millionen davon aufeinanderschichten, um einen Stapel von einem Miliimeter Höhezu bekommen - stößt ein Proteinmolekül mit einem Transportkanal. Wenn der Cholesteringehaft im Blut unter eine bestimmte Grenze sinkt, werden die Membranen geschädigt, die Zahl der weißen Blutkörperchen gehtzurück und das Abwehrsystem der Zelle gegen Schadstoffe und eingedrungene Krankheitserreger verliert an Schlagkraft. entnommen aus: Bild der Wissenschaft 3-1988, Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Neckarstraße 121, Stuttgart |